Sie sind erst 14 und 17 Jahre alt – und doch bereits Europameister im Karpfenfischen. «Petri-Heil»-Chefredaktor Dominique Lambert hat Michel Baumer und Flavio Heule aus Diepoldsau beim Karpfen-Ansitz begleitet.
Ein typischer Samstagmorgen im November: Es ist kalt, es nieselt und der Wind kühlt unangenehm jede nicht ganz so gut bekleidete Stelle am Körper aus. Mich fröstelt. «Ist ja typisch», denke ich mir, «immer, wenn ich jemanden beim Karpfenfischen begleite, ist es richtig schön kalt, nass und windig…»
Die beiden Europameister im Karpfenfischen sind bereits am vereinbarten Treffpunkt in Diepoldsau nahe des Alten Rheins, bei Einheimischen «Matz» genannt, und nicht zu übersehen – beide ziehen mit ihren Fahrrädern (!) je einen Anhänger, voll beladen mit tarn- und olivfarbenem Material.
Klassische Karpfenköder
Michel Baumer ist 14 Jahre alt, geht in die dritte Sek in Diepoldsau und möchte im kommenden Frühling eine Lehre als Polymechaniker beginnen. Flavio Heule ist 17 und im zweiten Lehrjahr seiner Maurerlehre. Beide fischen schon seit etwa acht Jahren zusammen.
Routiniert, wie man es allenfalls von älteren Fischern erwarten würde, bauen sie ihr Tackle auf. Schnell wird klar: Die beiden überlassen nichts dem Zufall. Ein Zelt fehlt ebensowenig wie die Gasheizung. Michel, ziemlich erkältet, setzt sich auf seinen bequemen Klappstuhl und bereitet sich erst einmal in aller Ruhe einen Tee aus frischem Ingwer und einer Limette zu. Das heisse Wasser hat er in einer Kaffeekanne mit dabei. Während der Tee ein wenig zieht, werden mit Gummihammer-Schlägen die Rutenhalter im Boden verankert, danach die Bissanzeiger ausgerichtet. Dann sind die Ruten an der Reihe.
Die jungen Europameister fischen dieselbe – eine zweiteilige – zwölf-Fuss-Karpfenrute von Nash. Einziger Unterschied: Michels Ruten verfügen über einen Korkgriff, Flavio hält sich am reinen Blank fest («Black is beautiful»).
Bei den Schnüren der massiven Freilaufrollen setzen beide Fischer auf Monofile – auf 0,35er und 0,40er.
Die Beköderung fällt heute klassisch aus: Boilies, am Haar serviert. Auf je einer Rute braun und derb riechend, auf der anderen weiss leuchtend, nach Vanille duftend und mit einem künstlichen, grell pinkfarbenen Maiskorn (Geschmack «Tintenfisch») versehen.
«Wir fischen hier eigentlich ausschliesslich mit Boilies oder Tigernüssen, da alles andere nur Weissfische an den Haken bringen würde», erklären mir die beiden.
Zeit zum Plaudern
Nach dem Ausbringen der Köder werden die Angelstellen noch mit vier, fünf Schaufeln Boilies zielgenau angefüttert. Der riesige Feumer steht im Gebüsch nebenan bereit, die Köder sind auf Grund, die Bissanzeiger scharf. Als es wieder zu tröpfeln beginnt, retten wir uns unters Dach des dank Gasheizung wohlig warmen Zelts.
Erst einmal will ich wissen: Wie kommen zwei junge Fischer an so viel und so hochwertiges Material? «Da ich als Schüler ja noch nichts verdiene ausser meinem Sackgeld, bleibt mir nichts anderes übrig, als mir zu Geburtstagen und Weihnachten Fischer-Tackle oder Gutscheine für Fachgeschäfte zu wünschen. Und ich spare mein Sackgeld, um mir immer mal wieder etwas Kleines, Futter oder so, kaufen zu können», erklärt Michel, während er sich ein Vorfach nach dem anderen bindet.
Flavio ist da finanziell als Maurerlehrling bedeutend besser dran: «Ich verdiene in meiner Maurerlehre ja schon recht gut, daher kann ich mir schon das eine oder andere leisten.» Aber trotzdem wünsche auch er sich zu jedem Fest etwas fürs Fischen.
Die vier sich gerade im Betrieb befindlichen Bissanzeiger übrigens seien Siegerprämien der Europameisterschaft, erklären mir die beiden schliesslich.
Wie wird man Europameister?
An die Junioren-Europameisterschaft fuhren sie durch Zufall: Marcel Karlinger habe sie beim Einkaufen in seinem Fischerei-Fachgeschäft in Mäder/AT gefragt, ob sie nicht Interesse hätten, daran teilzunehmen. Die Organisatoren würden sich sehr über ein Schweizer Team freuen. Während Flavio recht schnell zusagen konnte, musste Michel zuerst in der Schule fragen, ob er dafür frei bekäme. Glücklicherweise hatte die Schulverwaltung da ein Musikgehör (was alles andere als selbstverständlich ist). Marcel Karlinger, der die Sache angerissen hatte, begleitete die zwei Teenager als Coach.
Am 31. Mai dann begann die Karpfenmeisterschaft unter der Schirmherrschaft von Jakub Vágner (bei uns bekannt durch die DMAX-Fernsehserie «Big Fish Man» sowie als Teamfischer von Mad Cat) in Katlov, Tschechien. «Jedes der anwesenden 14 Teams bekam einen Platz zugelost und hatte dann eine Stunde Zeit, diesen mit einem Blei auszuloten», erklärt Flavio. «Dann, um zwölf Uhr, schrillte eine Sirene – das Wettfischen war eröffnet.»
Drei Tage Fischen non-stop
Eigentlich sei ihnen ja gesagt worden, dass sie normalerweise in 90 bis 100 Meter Entfernung zu fischen hätten, nur ausnahmsweise und bei wenigen Plätzen etwas weiter. «Schliesslich jedoch hatten wir einen Platz erwischt, bei dem es an die 120 Meter Entfernung waren, die wir überbrücken mussten», sagt Michel. «Da Flavio zehn, fünfzehn Meter weiter werfen kann als ich, hat er die Plätze beim Krautfeld in etwa 110 bis 120 Meter Distanz übernommen, während ich näher, so um 90 Meter, an der Baumreihe fischte.» Das permanente Anfüttern auf solch grosse Entfernung hätten sie dann aber recht schnell auch in den Schultern gemerkt. Flavio: «Man füttert ja über drei Tage grössere Mengen an, und das brennt dann mit der Zeit richtig in der Schulter, es tut richtig weh!»
Bereits hatten alle anderen Teams Fische gefangen, während bei ihnen beiden die Bissanzeiger noch still blieben. Dann aber, ab der ersten Nacht, habe es regelrecht «geriegelt», und ein Brocken nach dem anderen konnte gelandet, vom extra herbeigerufenen «Marshall» vermessen, gewogen, fotografiert und dann wieder freigelassen werden.
«Dabei kam es uns nicht darauf an, an wessen Rute der Biss kam – der, der näher stand, nahm sie auf und drillte den Fisch», erklären mir die Fischerfreunde.
Bei der Europameisterschaft der Junioren wird gemäss Reglement das Gewicht der drei schwersten Fische addiert. Sie hätten bald einmal gewusst, dass sie sich abgesetzt und an der Spitze platziert hätten, sagen sie mir.
Europameister – und keinen interessiert es
Nach drei Tagen durchgehenden Fischens stand dann endgültig fest, dass sie beide – Michel Baumer und Flavio Heule vom Team Switzerland, mit 51,3 kg Fisch die Europameister im Karpfenfischen der Junioren waren. Das sei absolut unglaublich gewesen, erinnern sich die beiden.
Und dann? Wurden sie gebührend empfangen, als sie zurückehrten?
«Nein, überhaupt nicht», meint Flavio schulterzuckend. Eigentlich habe er das auch gar nicht anders erwartet, da das Karpfenfischen in der Schweiz ja einen weit geringeren Stellenwert hat als in anderen Ländern wie Deutschland, Tschechien oder Polen.
Aber dass es nicht einmal eine kleine Meldung gab, beispielsweise in der Gratis-Zeitung «20 Minuten»? «Die haben das halt schlicht nicht gewusst», ist sich Michel sicher. Woher auch?
Dass um ihre Personen keinen Rummel gemacht wird, ist den beiden scheinbar völlig egal. «Wir sind zufrieden, wenn wir fischen können.» Und im kommenden Jahr 2018 wollen sie (wenn die Schule wieder ihr Einverständnis gibt) ihren Meistertitel verteidigen. «Wir wurden bereits angefragt vom Veranstalter.»
Biss! Adrenaliiiin!
Urplötzlich schrillt der Bissanzeiger draussen im Regen, die beiden Jungs stürzen aus dem Zelt. Michel knickt sich den Fuss beim Rausstürmen, schnappt sich die Rute, schlägt an, drillt. Spannung pur!
Zuerst ist die Rute stark gebogen, dann streckt sie sich wieder. «Ou nein, das sieht nach einem Brachsmen aus», ahnt Michel bereits. Tatsächlich: Bald schon kniet Flavio im nassen Unterholz und hakt den Fisch im Wasser ab.
Nachdem wieder fachmännisch angeködert und ausgeworfen ist, setzen wir uns zurück ins beheizte Zelt. Ich will wissen, wie die beiden jemandem, der nicht wirklich viel vom Karpfenfischen weiss, diese Fischerei schmackhaft machen wollen. «Das muss jeder selber für sich erfahren», sind sich die Freunde einig. Die Werbetrommel zu schlagen für die Karpfenfischerei, das sei nicht ihr Ding. «Obwohl», das fügen sie dann doch an, «der Drill ist halt schon etwas ganz Besonderes bei Karpfen, die haben Power ohne Ende.»
Es sei aber sicher auch nicht ganz einfach, das Karpfenfischen. «Wenn jemand das Gespür nicht hat, bringt alles nichts», erklärt Flavio. Und fügt an: «Wenn ich den Jungen so zusehe, die ihre Köder zu Wasser lassen und dann denken, dass sie so etwas fangen, dann muss ich mich schon fragen.»
Ich frage mich auch. Und zwar, ob ich eben richtig gehört habe. Hat Flavio grad von «den Jungen» gesprochen? Verschmitzt lächelnd meint er, der 17-Jährige, auf sein eigenes Alter angesprochen: «Ich meine die wirklich Jungen…»
Dominique Lambert








